Er geht
1.
Ein Kind von reichlich fünfzehn Monden,
in strammer , blondgelockter Bub,
rutscht fröhlich auf dem großen Teppich
herum drin in der Kinderstub‘.
Die Mutter glücklich blickt aufs Kindlein,
doch mengt ins Glück sich Sorg‘ und Leid –
Sie seufzt: „Ach, wenn‘s doch nur schon wäre!
Mit fünfzehn Monat‘ wär’s schon Zeit!“
Großmutter auch, die vielerfahr’ne,
bedenklich wiegt ihr graues Haupt:
„Das es so lang, so lang wird dauern,
das hätte niemand doch geglaubt!“
Da – eines Tages – unversehens –
Erhebt sich stolz der kleine Mann
vom Teppich, wo er sonst gekrochen,
und fängt – wie lieb! – zu laufen an.
Zwei Schritte macht er kühn ins Zimmer,
zwar wankend dabei – aber er steht!
Und jubelnd alles ruft im Hause:
„Gott sei gedankt, der Junge geht!“
2.
Seitdem sind sechzig Jahr vergangen,
das Kind von einst heißt heut‘: „Herr Rat“;
und wieder wartet man mit Bangen,
genau so, wie man’s einstmals tat.
Fast endlos dehnen sich die Tage,
es dauert Monde, fast ein Jahr,
verzweifelt ringt man schon die Hände
und seufzt, schier jeder Hoffnung bar.
Da, eines Tages, schwarz gekleidet,
der Rat in seinem Zimmer steht –
und jubelnd alles ruft im Amte:
„Gott sei gedankt, der Alte geht!“
Dr. Granarius