Die Eintagsfliege
Im Jahre des Heils, am achten Mai,
Ward sie geboren, früh um drei.
Die Kinder-, Schul- und Jugendzeit
Bis zur vollkomm‘nen Mündigkeit
Beanspruchten zwei volle Stunden.
Kaum war sie reif zum Flug befunden,
Begann nach allgemeiner Mode
Bei ihr die Sturm- und Drangperiode;
Die währte, bis es zehn Uhr war.
Die Sonne schien so warm und klar
Und weckte ihre Liebesglut;
Sie wirbelte in toller Wut
Durch Wiesen, Felder, Wald und Flur
Bis gegen ein-dreiviertel Uhr
Und hat dabei den Keim gegeben
Zu manchem neuen Eintagsleben.
Um zwei Uhr trat schon Ruhe ein;
Den Schwestern, welche erst um neun
Geboren, gab sie gute Lehren
Und kam zu Würden und zu Ehren.
Das währte bis um fünf; - darnach
Ward sie allmählich altersschwach,
Voll war die siebente Stunde kaum,
Da fiel sie tot herab vom Baum -
Und hat an diesem Tag erfahren,
Was unsereins mit siebzig Jahren.
Alois Wohlgemuth