Die Entstehung des Kusses


Die Frage wird so oft gestellt:
Wie wohl das Küssen kam zur Welt?
Doch tät die Antwort fehlen.
Wie vieles denn von ungefähr,
So kam das Küssen auch daher -
Ich will es euch erzählen.

Frau Eva schlief. Aufs Geratewohl
Kam eine Biene honigvoll,
Setzt sich auf ihre Lippen;
Sie fühlt des Atems süßen Hauch
Und möchte nun nach Bienenbrauch
Von diesem Dufte nippen.

Doch trifft sich‘s, dass sie Unglück hat;
Herr Adam sieht die böse Tat
Und will den Frevel rügen.
Er jagte fort das Bienlein keck,
Und dieses ließ, wohl nur aus Schreck,
Dort seinen Honig liegen.

Nun lässt’s dem Adam keine Ruh;
Wie kam die Biene nur dazu,
Sich grade dort zu setzen?
Es stehn ja Blumen rings umher,
Wohl an die tausend und noch mehr,
Wo sie sich konnt‘ ergötzen!

Nachdem er weislich nachgedacht,
Hat er’s zu dem Entschluss gebracht,
Sich dem Versuch zu fügen.
Er schmeckt den Honig zuckersüß,
Den dort die Biene hinterließ,
Und saugt in langen Zügen.

Die Eva nun, die jetzt erwacht,
Die wundert sich, was Adam macht;
Doch der lässt sich nicht stören.
Ihr fiel es auch nicht anders ein,
Als dass das alles müsste sein;
Und drauf könnt‘ sie schwören.

Der Honig war schon längst verzehrt,
Doch Adam hat nicht aufgehört,
Wollt immer mehr genießen.
Er fühlte tief in seiner Brust
Die nie gekannte Himmelslust,
Ein holdes Weib zu küssen.

Er küsste hin, - sie küsste her,
Wenn’s Pärchen nicht gestorben wär‘,
So tät es heut noch küssen.
Es ist bei Gott auch gar zu schön!
Wir alle haben’s eingeseh‘n. -
Seht, so entstand das Küssen.

Jetzt braucht zum Küssen nimmermehr
Erst eine Biene honigschwer
Die Lippen zu versüßen.
Ich küsse auch, weil mir’s gefällt,
Die ganze junge Mädchenwelt,
Die alten – lass‘ ich grüßen!


Karl Tannenhofer