Die Alte


Zu meiner Zeit
bestand noch Recht und Billigkeit.
Da wurden auch aus Kindern Leute,
da wurden auch aus Jungfern Bräute,
doch alles mit Bescheidenheit.
Es ward kein Liebling zum Verräter,
und unsre Jungfern freiten später,
sie reizten nicht der Mütter Neid.
O gute Zeit!

Zu meiner Zeit
befliss man sich der Heimlichkeit.
Genoss der Jüngling ein Vergnügen,
so war er dankbar und verschwiegen,
und itzt entdeckt er’s ungescheut.
Die Regung mütterlicher Triebe,
der Fürwitz und der Geist der Liebe
fährt oftmals schon ins Flügelkleid,
o schlimme Zeit!

Zu meiner Zeit
ward Pflicht und Ordnung nicht entweiht.
Der Mann ward, wie es sich gebühret,
von einer lieben Frau regieret,
trotz seiner stolzen Männlichkeit.
Die Fromme herrschte nur gelinder,
uns blieb der Hut und ihm die Kinder.
Das war die Mode weit und breit.
O gute Zeit!

Zu meiner Zeit
war noch in Ehen Einigkeit.
Itzt darf der Mann uns fast gebieten,
uns widersprechen und uns hüten,
wo man mit Freunden sich erfreut.
Mit dieser Neuerung im Lande,
mit diesem Fluch im Ehestande
hat ein Komet uns längst bedräut.
O schlimme Zeit!

Friedrich von Hagedorn