Wie das Pferdchen in die Schule geht
 
Auf dem großen Platze ist zur Zeit des Jahrmarktes ein hübsches weißes Zelt aufgeschlagen. Bunte Fahnen flattern darauf, und ein Mann erscheint an dem Eingange desselben mit einem allerliebsten munteren Schimmel, den er an einem prächtigen roten Zaume führt.  Das Pferdchen ist fromm wie ein Lamm und sieht so klug aus, dass jedermann seine Freude daran hat. Viele Leute bleiben am Zelte stehen, und der Herr des Pferdes, stattlich wie ein Stallmeister aufgeputzt, hält mit lauter Stimme eine lange Lobrede auf seinen Schimmel. Er erzählt wahre Wunderdinge von ihm, ladet die Leute ein, ins Zelt einzutreten, um die Tausendkünste des Tieres mit anzusehen, und wir folgen neben zahlreichen anderen seiner Aufforderung. Im Zelte nehmen wir Platz auf Stühlen, die im Kreise um einen freien Platz in der Mitte gestellt sind. Das Pferd spaziert vor uns umher, als gehöre es mit zur Gesellschaft. Der Herr Stallmeister eröffnet die Vorstellung mit einer Anrede an die Zuschauer, teilt uns mit, wie sein Pferd heißt, wie alt es ist usw., dann klatscht er mit einer kleinen Peitsche, und – statt das der Schimmel aus Furcht vor Schlägen davonläuft, kommt er herzu und lässt sich streicheln. Sein Herr sagt ihm allerlei Schmeicheleien, und der Schimmel gibt ihm dafür ganz zärtlich einen Kuss. Jetzt befiehlt der Herr Stallmeister dem Pferd zu niesen, und – hinter dem Rücken des Schimmels – lässt sich der Mann von einer Dame ein Geldstück leihen. Sie gibt ihm eine Mark. „Komm her, mein Schimmelchen!“ sagt der Künstler, von welchem Herrn ist dieses Geldstück?“ Das Pferd schüttelt mit dem Kopfe. „Aha!“ spricht der Mann, „du meinst, es ist kein Herr – also eine Dame?“ Das Pferd klopft scharrend mit dem Vorderfuße. „Wie alt schätzest du die Dame, von welcher ich die Mark erhalten habe?“ Der Schimmel klopft mit der Hufe achtzehnmal – so viele Jahre würden wir ungefähr das Alter der Dame auch geschätzt haben. „Wie viel Pfennige ist dieses Geldstück wert?“ Mit diesen Worten wirft der Mann das Geldstück vor den Schimmel, und dieser klopft hundertmal. Dann wird wieder ein Geldstück vorgeworfen,  das Pferd gibt wieder durch Hufschläge den Wert an. Geldsummen werden dem Schimmel von Zuschauern vorgesagt, die er zusammenzählen soll, andere, die er abziehen soll, dann bekommt er Aufgaben aus dem Einmaleins, dann Dividieren und sogar Regeldetri. Auf allen Fragen gibt das Pferd mit Hufschlägen richtige Antwort, und sämtliche junge und alte Leute, die ringsum sitzen, sind erstaunt über die Weisheit des Pferdes. Das Tier, meinten sie, rechnet besser, richtiger und schneller als mancher kleine und große Mensch, der vor ihm sitzt. Zum Schluss soll der Schimmel noch eine Pistole losschießen, die mit einem Brette in Verbindung gesetzt ist. „Schieß zu Ehren des Kaisers von Russland!“ befielt der Herr, - wenn er sich etwa in einem Preußischen Orte befindet. – Der Schimmel schüttelt mit dem Kopfe. „Schieß für den türkischen Sultan!“ – Das Pferd schüttelt wieder. „Für den König von Preußen!“ – Sofort knallt die Pistole, indem der Schimmel auf das Brett tritt.
 
Wir verlassen mit großer Befriedigung das Zelt, und du fragst mich, wie es möglich sei, dass ein Pferd das alles lernen könne. Ich will dir ein wenig von den Geheimnissen der Pferdeweisheit verraten. Die Weisheit des Pferdes besteht vor allem darin, dass es genau auf seinen Lehrmeister achtet und die Begungen ausführt, welche dieser haben will. Nicht jedes Pferd ist hierzu tauglich, es gehört stets ein besonders gelehriges, gutmütiges und kluges Tier dazu. Der Abrichter ruft beim Beginn des Unterrichts das Tier bei seinem Namen, klatscht mit der Peitsche dazu, schmeichelt ihm freundlich und gibt ihm ein Stück Brot oder Zucker. Später kommt es schon auf ihn zugelaufen, sobald er nur das Klatschen der Peitsche hört. Hat sich das Pferd gewöhnt, den Zucker behutsam aus der Hand zu nehmen, so lässt der Abrichter sich denselben vom Munde wegholen; das sieht dann genau so aus, als gäbe das Tier dem Manne einen Kuss. Das Tier berührt später auch seinen Mund, sobald der Herr ihm das Zeichen dazu macht, selbst wenn er ihm keinen Zucker darreicht. Soll das Pferd auf Kommando niesen lernen, so wirft ihm der Abrichter mit einer besonderen Handbewegung etwas Schnupftabak in die Nase. Er braucht nachher nur jene Bewegung zu machen, so niest das Pferd auch ohne Schnupftabak. Sticht der Herr seinen vierfüßigen Schüler mit einer Stecknadel etwas hinter das Ohr, so schüttelt derselbe heftig mit dem Kopfe. Sobald der Herr später dieselbe Stellung wieder einnimmt, meint das Tier auch den Stich wieder zu empfinden und schüttelt. Manches Pferd hat eben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Was bei der öffentlichen Vorstellung der Herr das Tier fragt, versteht jenes nicht; will er aber eine verneinende Antwort darauf haben, so nimmt er jene bestimmte Stellung ein und veranlasst dadurch das Tier zum Schütteln. Ganz ähnlich geschieht es mit dem Klopfen und Hufscharren. Wird ein Pferd gelinde auf die Krone eines Vorderschenkels geschlagen, so scharrt es mit dem Fuße. Der Lehrmeister tritt nun vor das Tier, spricht im fragendem Tone zu ihm und klopft es dabei auf jene Stelle. So oft er klopft wird das Pferd scharren. Soll das Pferd mit dem Scharren aufhören, so tritt der Mann zurück. Das Tier gewöhnt sich durch häufige Wiederholung allmählich so daran, dass es jedes mal zu scharren anfängt, wenn sein Herr sich in bestimmter Weise fragend vor oder neben dasselbe stellt; es scharrt so lange fort, bis er zurücktritt. Das Pferd rechnet also all jene Aufgaben nicht aus, die ihm gestellt werden, sondern sein Herr tut es. Das Pferd klopft aber genau nur so viele Mal, als es der Herr haben will.
 
 
Hermann Wagner