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eine Täuschung
In einem kleinen linksrheinischen Städtchen hatte einst eine Menagerie ihre Zelte aufgeschlagen und zeigte den erstaunten Bewohnern die wildesten Bestien der Erde für ganze zehn Pfennig. Ein wandernder Handwerksbursche kommt des Weges und bittet den Herrn ‚Direktor‘ um Arbeit.
„Können Sie gut brüllen?,“ fragte auf diese Bitte der Herr der wilden Tiere. „Brüllen? Ich? Und wie! Wie ein abgestochenes Ferkel!,“ war die Antwort. – „Gut! Dann können Sie sofort bei mir Beschäftigung finden.“ Sie wurden handelseins.
Zunächst wurde dem neugebackenen Menageriegehilfen der Auftrag, dem Herrn Direktor behilflich zu sein, einen Löwen, der am Tage vorher sein wüstenkönigliches Leben ausgehaucht hatte, das Fell abzustreifen. Und als man damit fertig war, musste der Gehilfe selbst in das Löwenfell kriechen.
Der Direktor staffierte ihn noch kunstgerecht aus und wies ihm dann einen Käfig zum Aufenthalt an, wo er sich nun wie ein naturgeschichtlich echter Löwe zu gebärden hatte.
Der Herr Direktor hatte wirklich einen guten Griff getan: der neue Löwe brüllte so echt, als wäre er in der Sahara beheimatet gewesen. Dabei rüttelte er an den Eisenstangen wie ein wirkliches Untier.
In seinem Übereifer aber ging er zu weit, und so geschah es, dass plötzlich die Seitenwand des Nebenkäfigs, die ihn vor einem leibhaftigen Tiger trennte, einstürzte. Himmel und Hölle! Da war es aus mit seinem Löwenmut.
Der falsche Wüstenkönig drückte sich scheu und schrie vor Angst: „Hilfe! Hilfe!“ Er sah schon sein letztes Stündlein kommen, als plötzlich sein Nachbar, der Tiger, ihm dem Löwen zurief: „Dummer Kerl, was brüllst du denn so? Ich bin ja auch nicht echt!“