Jochen
 
Ich ging eines Sommertags im Garten Spazieren. Da sah ich vor mir auf dem Wege etwas herumhuschen, ein graues, flaumiges Klümpchen. Beim bessern hinsehen erkannte ich einen kleinen, unflüggen Spatzen, der offenbar aus dem Neste gefallen war und nun etwas entsetzt und verwirrt Entdeckungsreisen machte. Aus Mitleid mit seiner Angst und aus Sorge, die Katze möchte ihn erwischen, nahm ich ihn auf und trug ihn ins Haus. Er schilpte ganz laut in meiner Hand, und sein kleines Vogelherz schlug, dass ich es an den Fingern fühlte. „Sei nur gut, mein armer, kleiner Kerl,“ sagte ich zu ihm und küsste ihn sacht auf sein ruppiges Köpfchen; „wir tun dir nichts; wir wollen dich hüten und pflegen.“ Drinnen zeigte ich meinem kleinen Walter, der gleich mit Feuereifer dabei war, ihn aufzupäppeln. Ein paar Brocken Weißbrot waren schnell eingeweicht, und da er sich in der Hand viel zu sehr ängstigte, um fressen zu können, setzte ich ihn neben den Käfig unseres Kanarienvogels auf einen kleinen Tisch. Mit einem Stäbchen fischte ich die weichen Klumpen Brot aus dem Näpfchen und füllte sie dem schreienden, zitternden Spatzen in den aufgerissenen Schnabel. Er schluckte eifrig und sperrte dann gleich wieder den Schnabel auf. Er schien grausam hungrig zu sein. Der Kanarienvogel – Fritzchen hieß er – sah der Geschichte ein weilchen sprachlos vor Erstaunen zu. Dann tat er plötzlich einen hellen, schmetternden Pfiff, wie ich ihn noch gar nicht von ihm gehört hatte, sprang von seiner oberen Stange herunter an sein Futternäpfchen und fing an, auf eine Weise in sich hineinzufressen, als wenn er drei Tage nichts gekriegt hätte. Ich musste lachen. „Wird dir so fresserlich zumute, Kleiner,“ sagte ich, „weil du den andern fressen siehst?“ Aber plötzlich kam Fritzchen dicht ans Gitter und steckte den Schnabel durch, so weit er konnte. Dabei ließ er einen sanften, lockenden Ton hören. Kaum hatte mein Spätzchen das gehört, so schoss es mit ausgebreiteten Flügeln auf den Käfig zu, bis dicht vor Fritzchen hin und sperrte und schrie aus Leibeskräften. Und was geschah? Fritzchen ließ aus seinem gefüllten Kropf das eben gefressene Futter zurückkehren und stopfte dem Schreihals die aufgeweichten Körner in den weitaufgerissenen Schnabel, ganz wie die Vogeleltern ihre Nestlinge füttern, die noch nicht selber mit dem Schnabel beißen und knuspern können. Wir sahen lautlos zu. Fritzchens Kröpfchen war bald leer, und der Spatz fing von neuem an zu zetern. Sofort sprang der Gelbe wieder an den Napf und fütterte in sich hinein, was das Zeug hielt. In der Zwischenzeit füllte ich den Fresssack mit Brotbrei, den er sich ebenso gern gefallen ließ. Es schien ihm einerlei, was er bekam; wenn er nur was zu schlucken hatte. Als Fritzchen wieder soweit war, meldete er sich am Gitter, und das Spätzi schoss augenblicklich zu ihm herum. Und so ging die Geschichte eine Weile fort. Es dauerte lange, ehe der kleine Fresssack zum erstenmal satt war und mit eingeducktem Kopf in sich zusammenkroch. Er musste mächtig ausgehungert gewesen sein.
 
Da Jochen – so nannten wir das Spatzenkind – für seinen Käfig noch zu klein und ungeschickt war, setzten wir ihn in ein rundes Körbchen, in das wir etwas Watte und wollende Lappen getan hatten. Natürlich musste das Körbchen neben dem Käfig stehen; denn als ich eine Bewegung machte, um es wegzutragen, stieß Fritz einen gellenden Pfiff aus und stürzte mit ausgebreiteten Flügeln gegen das Gitter. Sowie ich den Korb neben dem Käfig gestellt hatte, war er zufrieden und fing an, leise und süß zu singen. Was mochte wohl in seiner kleinen Vogelseele vorgegangen sein, dass er so ganz plötzlich diese Liebe zu dem ruppigen, struppigen grauen Fremdlinge gefasst hatte? Von nun an teilten wir uns die Pflege unseres Spatzenkindes, und Jochen gedieh prächtig. Es dauerte nicht allzu lange, so pickte er schon Brotkrümchen auf, und noch ein Weilchen weiter knusperte und splitterte er seine Körner selbst. Seine Federn glätteten sich und wurden dichter, und er wurde bald so zahm, wie nur ein Vogel werden kann. Er flatterte uns auf die Hand, wenn wir ihn riefen, und kam auf den Tisch, wenn wir uns zum Essen setzten. Einmal, als ich mir gerade eine Buttersemmel zurecht machte, kam er mit einem Satze auf meine Hand und fraß mir mit der größten Frechheit die Butter herunter. „O, du unglaublicher Halunke!“ sagte ich und gab ihm mit dem Löffel ein Kläppschen auf den Rücken; da zeterte er mich noch an, als wenn ihm das größte Unrecht geschehen wäre. Ein richtiger Spatz! Nach einiger Zeit hatte er einen Vogelkäfig ohne Tür ausfindig gemacht. Am Abend schlüpfte er da hinein, sprang auf die Stange, plusterte sich auf und blieb still sitzen. Der Käfig wurde seine Schlafstube. Da dem Spatz zuliebe nicht tagein tagaus die Fenster geschlossen bleiben konnten, waren wir darauf gefasst, dass er uns durchbrennen würde. Eines Tages flog er auf die Fensterbank und streckte seinen frechen Schnabel in die schöne Sommerluft hinaus. Schilp, sagte er verwundert. Eine Minute lang hopste er noch hin und her, dann – rrrr – weg, in den Garten hinaus, ins Gebüsch. Ich sah ihm bedauernd nach. Fritz aber wurde ganz aufgeregt. Er pfiff gellend und sprang flatternd auf und ab. Rrrrr! Da sauste Freund Jochen zum Fenster hinein, machte einen großen Bogen durch die Stube, setzte sich auf Fritzchens Käfig, schmetterte einen ganzen Sack voll Neuigkeiten hin, so schnell, dass man kein Wort verstehen konnte, und schnurrte wieder hinaus. Nun trieb er sich mit einigen Kameraden auf dem Grasplatze vor unserm Fenster herum, planschte in der Schüssel, die wir draußen als Vogelbad aufgestellt hatten, bis er tropfnass war, und kam dann schwerfällig wieder hereingeflogen, natürlich zu Fritz, der ihn sofort zärtlich ansang, was sich der kleine Spatzenlümmel ruhig gefallen ließ. Von nun an trieb er sich am Tage im Freien umher, besuchte sein Fritzchen von Zeit zu Zeit und erzählte ihm, was es draußen neues gäbe, und abends kam er zum schlafen heim. Außerdem aber fehlte er bei keiner Mahlzeit; der kleine Halunke musste die Uhr im Kopfe haben. Eines Abends blieb er fort. O weh! Dachten wir, die Katze hat ihn geholt. Aber siehe da, zum nächsten Mittagessen war er wieder da. Er musste wohl einen größeren Ausflug gemacht haben, - eine Landpartie, meinte Walter,- und war von der Dunkelheit überrascht worden, so dass er irgendwo hatte einkehren müssen. Dies kam nun öfter vor; zuweilen sahen wir ihn tagelang nicht. Um so größer war dann die Freude, wenn der Schlingel mit seinem bekannten Sauseschwung ins Zimmer hereinstürmte. Fritzchen besonders geriet jedes Mal ganz außer sich. Gelegentlich brachte er auch Freunde mit, dass heißt, nicht etwa in die Stube herein, sondern auf den Platz vor dem Fenster, zu dem er ein- und auszufliegen pflegte. Wir sahen, dass er ihnen die Hausgelegenheit zeigte und mit seiner schönen Wohnung prahlte. Im Spätsommer wurden seine Reisen länger und länger. Endlich, im Herbst, schien er ganz weg zu sein. Da kam ich eines Tages kurz vor Weihnachten ins Esszimmer wo die Fenster nach Tische zum Lüften geöffnet worden waren. Und was hörte ich? Schilp, schilp, schilp, teck, teck, teck! Jochen hockte auf Fritzchens Käfig! „Jochen!“ rief ich hocherfreut, „du Ausreißer, wo kommst du her?“ Er flog mir sofort auf die Hand, nahm Körner zwischen meinen Fingern heraus und rieb sein graues, ruppiges Köpfchen an meinem Daumen, ein Zeichen seiner Zärtlichkeit, antwortete auch mit seiner hellsten Simme auf Fritzchens begeistertes Flöten, flog dann auf, sauste im Kreise durchs Zimmer und schoss wieder zum Fenster hinaus. Weg war er! Unsere Hoffnung, er werde nun wieder öfter den Weg herfinden war umsonst. Der ganze Winter ging hin ohne ein neues Wiedersehen. Auch der junge Frühling war schon beinahe wieder zu Sommer geworden ohne Jochen.
 
Da, eines Tages, rrrrrrrrrrrrr! Zum offenen Fenster herein und im Bogen auf Fritzchen los, der Graue, der Graue! „Jochen ist wieder da!“ hieß es freudig durchs ganze Haus. Aber Jochen war doch nicht ganz der Alte; das merkten wir bald. Erstens schlief er nachts nicht ein einziges Mal bei uns, und zweitens hatte er eine sonderbare Art von Unruhe an sich, flog ab und zu mit Eile und Hast, fraß sich voll, dass man denken musste er wolle platzen, Jagte davon und kam in größter Eile mit leerem Kropf und neuem Hunger wieder und fing von vorn an mit dem Schlingen. Plötzlich fiel mir ein, was es sein könnte. „Wisst ihr was,“ sagte ich, „er hat Kinder, die er füttern muss!“ Sofort machte ich in einem Schüsselchen Brei von eingeweichtem Weißbrot zurecht und stellte es ans Fenster. Richtig fiel Jochen wie unsinnig vor Eifer darüber her, schnabelte in sich hinein, soviel er nur konnte, schoss davon, kam im Umsehen wieder, holte mehr und so fort, bis der Vorrat zu Ende war. Das gefiel uns. Wir sorgten für mehr. Und soviel wir hinstellten, soviel brauchte er; nichts kam um. Wir warteten nun Tag um Tag voller Spannung, wie es wohl werden möchte, wenn die Jungen erst flügge  sein würden. Eines schönen Tages kam er denn auch richtig mit seiner Kindergesellschaft an: fünf noch ungeschickte, ruppige kleine Graulinge. Sie hockten alle unter der Fensterbank und schilpten ängstlich, wenn Jochen Miene machte, etwas weiter von ihnen wegzugehen. Als er gar ins Zimmer flog, um seinen Freund zu begrüßen fingen sie jämmerlich an zu zetern. Er schrie ihnen zu, sie sollten hereinkommen. Aber sie trauten sich nicht; sie blieben draußen sitzen und jammerten. So kam er zu ihnen zurück, und bald flogen sie zusammen weg, die Kleinen noch unsicher, mit Flitter-Flatter; aber sie mussten hinter ihm her, so gut es ging. Nun kamen sie alle Tage ans Fenster; aber Jochen konnte ihnen noch so gut zureden oder ärgerlich mit ihnen schimpfen, ins Zimmer trauten sie sich nun einmal nicht. Auch aus der Hand nahmen sie kein Futter. Er musste zufrieden sein, wenn sie aus ihrem gemeinsamen Trögelchen fraßen. Sie wurden nach und nach groß und dick und selbständig und flogen ihrer Wege.
 
Der Sommer und der Herbst gingen hin, und Jochen blieb uns treu, wenn er sich auch nicht regelmäßig einfand. Anfang Winter kam er noch ziemlich häufig; nach Weihnachten aber machte er längere und immer längere Pausen. Wochen lagen zwischen seinen Besuchen, endlich Monate. Von Ende März bis Ende Juli war von Jochen keine Feder zu sehen. Dann tauchte er plötzlich wieder auf, kam ins Zimmer hereingeschossen, so zielbewusst, als sei er nie weggewesen, flog von einem zum andern, pickte Körnchen von der Hand, zwitscherte ein Weilchen mit Fritz, der ganz selig über das Wiedersehen war, und schoss wieder hinaus, als wenn er plötzlich die größte Eile hätte. Das war das letzte Mal, dass wir unseren lieben grauen Freund gesehen haben. Von da an kam er nie wieder. Ob er am Ende gestorben ist? Wir hoffen immer noch, dass eines Tages Fritzchen anfangen wird zu piepsen und zu flöten: „Jochen ist wieder da; macht geschwind das Fenster auf!“