Heirat ohne Liebe


Es lebte einmal ein Blinder, der war so ungeheuer reich, dass ihm nichts unerreichbar schien. Wegen seines großen Reichtums ging man ihm um den Bart, so dass er hochmütig und anmaßend wurde.
Nun lebte ganz in seiner Nähe ein vornehmer, aber armer Edelmann, den seine drückende Armut so weit brachte, dem reichen Blinden die eigene Tochter zur Frau anzutragen. Das Mädchen war schön, voller Liebreiz und trotz seiner Armut von stolzem, selbstbewusstem Wesen. Ihrem Vater ging‘s eben wie vielen anderen: Er ließ sich zu einem Entschluss hinreißen, an den er als begüterter, unabhängiger Mann nicht einmal gedacht hätte. Er sah über das Gebrechen des Blinden hinweg und gab ihm seine wunderschöne Tochter zur Frau. Damit hatte er aber das stolze Mädchen zu einem Leben voll Gram und Verzweiflung verurteilt. Die Aussicht auf ein Leben an der Seite des Blinden vergällte ihr jede Freude.
Der Blinde überlegte und befand, dass ihm eine Verbindung mit dem Edelfräulein nur vorteilhaft sein konnte. Er verlobte sich also mit ihr und beschloss, sie in sein Haus zu führen und eine großartige Hochzeitsfeier auszurichten.
In der Hochzeitsnacht bereitete man während des Nachtmahls dem Blinden das Brautbett. Voller Ungeduld eilte er in sein Schlafgemach, tastete sich zu seiner Frau, schloss sie in die Arme und presste sie leidenschaftlich an sich. Mit seinen Händen erfühlte er, dass sein liebes Eheweib einen weichen, schmiegsamen Körper hatte, und er fand an ihr alles, was ein Mann an einer Frau an Reizen nur finden kann. Der Blinde sah seine kühnsten Wünsche erfüllt, aber in den Becher seiner Freude floss ein bitterer Wermutstropfen: Man hatte ihm versichert, sie sei noch unberührt, doch sie hatte sich bereits vorher einem edlen Ritter hingegeben, der sie von Herzen liebte.
Als der Blinde im zärtlichen Liebesspiel so weit gekommen war, dass ihm der Schaden nicht mehr verborgen bleiben konnte, war er beleidigt und empört zugleich. Mit zornbebender Stimme fuhr er sie an: „Kein Zweifel! Man hat mich geschädigt!“
Sie erwiderte spöttisch: „Das ist zweifellos richtig. Ihr habt ja schließlich beide Augen verloren.“
Der Blinde kreischte: „Lasst den unangebrachten Hohn! Solche Schmähungen haben mir gerade noch gefehlt! Schließlich haben mir‘s meine Feinde angetan!“
Die junge Frau erwiderte scharf und mit Nachdruck: „Dann lasst auch Ihr die Schmähungen! Mir haben's schließlich meine Freunde angetan! Den Schaden, den sie mir taten, will ich gern tragen. Was Euch Eure Feinde angetan haben, ist dagegen schlimmer als der Tod. Also kümmert Euch nicht um das, was mit widerfahren ist!“
Damit fertigte sie ihn so nachdrücklich ab, dass er nie wieder ein Schmähwort wagte, wie sehr ihn auch die Sache kränkte und aufbrachte.
Lasst euch meine Geschichte eine Warnung sein: Wer selber im Glashaus sitzt, soll lieber nicht mit Steinen werfen! Wer den anderen wegen eines Körnchens im Auge schmäht und selber einen Balken darin hat, wird seinen Spott teuer bezahlen, wenn man ihm die unangenehme Wahrheit unter die Nase reibt.