Der Grund allen Übels


„Also Ihre Brille suchen Sie? Ist dies Objekt es wert, dass man in solche Wut gerate? Kennen Sie denn gar keine Geduld? Was nützt die Wut?
„O geistlos! Hat es Luther nichts genutzt – falls von Nutzen die Rede sein sollte - , wenn er den Teufel fortschalt? Wisst Ihr denn nichts von der Entlastung der armen Seele? Von der köstlichen Arznei, die im Fluchen liegt?“
Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoss wütend im Zimmer hin und her und ergoss eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille. Ich suchte inzwischen am Boden herum; ich hob ein Paar Hemden weg, die blank, aber zerzaust umherlagen, und mein Blick viel auf ein Mausloch in einem Bretterspalt; ich glaubte darin etwas schimmern zu sehen, strengte meine Augen an, und – die Entdeckung war gemacht. Ich nahm den schwergeärgerten Mann leicht am Arm und deutete schweigend auf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermisste Brille und begann: „Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer!“ Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu ziehen, die Mühe stand im Missverhältnis zum Wert des Gegenstandes. Endlich war es gelungen, er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: „Todesurteil!,“ hob den Fuß und zertrat sie mit dem Absatz, dass das Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog.
„Ja, jetzt haben Sie aber keine Brille,“ sagte ich nach einer Pause des Staunens.
„Wird sich finden, diese Teufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit. Kommen Sie, da, sehen Sie!“
Er zog seine Uhr heraus. Es war eines der gewöhnlichsten Erzeugnisse der Uhrenindustrie, ganz Zwiebel.
„Statt dieses redlichen, treuen Wesens,“ fuhr er fort, „versahfrüher eine wertvolle goldene Uhr den Dienst, die, ich kann es sagen, ihr Stück Geld gekostet hatte. Sie vergalt dieses Opfer jahraus, jahrein mit Tücken jeder Art, benutzte arglistig jede Gelegenheit zu fallen, sich zu verstecken, Gläser zerbrachen so viele, dass es mich bald an den Bettelstab gebracht hätte. Endlich setzte sich die Uhr mit dem Haken der goldenen Uhrkette in Einverständnis, in Verschwörung.
Wer kann manchen Gegenständen die Verrücktheit ansehen? Zum Beispiel einem einfachen Knopf? Solch Racker hat mir neulich folgenden Streich gespielt. Ich ließ mich gegen alle meine Grundsätze zur Teilnahme an einem Hochzeitsschmaus verleiten. Eine große, silberne Platte, bedeckt mit allerlei Zuspeisen, kam vor mich zu stehen. Ich bemerkte nicht, dass sie sich etwas über den Tischrand heraus gegen meine Brust geschoben hatte. Eine Dame, meiner Nachbarin, fällt die Gabel zu Boden. Ich will die Gabel aufheben. In Knopf meines Rockes hatte sich mit teuflischer List unter den Rand der Platte gemacht, hebt sie, wie ich schnell aufstehe, jäh empor. Der ganze Plunder, den die Platte trug, Soßen, Eingemachtes aller Art, zum Teil dunkeltote Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch. Ich will noch retten, werfe dabei eine Rotweinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitskleid der Braut. Ich trete der Nachbarin rechts versehentlich heftig auf die Zehen. Ein anderer, der helfend eingreifen will, stößt eine volle Gemüseschüssel, ein dritter sein Glas um – oh, es war ein Hallo, ein ganzes Donnerwetter, kurz, ein echt tragischer Unfall: die zerbrechliche Welt alles Endlichen überhaupt schien in Scherben gehen zu wollen. Mich ergreift plötzlich die Stimmung des Erhabenen. Ich fasse eine Champagnerflasche, trete ans Fenster, öffne es, schwinge die Flasche empor, der Bräutigam fällt mir in den Arm, ich erzürne mich, es gibt böses Blut, die Braut war ohnedies halb ohnmächtig, kurz – ich mag nicht weiter erzählen, denn nun wurde die Sache komisch.“ – „Ernst, wollen Sie sagen? Allerdings, Ernst und Scherz gehen oft ineinander über.“
Er staunte mich an wie einen Menschen, der alle Gesunden Begriffe verwirrt. Ich verzichte auf weiteres Eingehen und bat ihn, das Trauerspiel von Haken und Uhr zu vollenden.
„Ja so, ja, also: dar Haken schlich mit einer Macht über das Tischchen, worauf ich die Uhr achtsam gelegt, leise hinüber nach dem Bett, nestelte sich in eine Naht des Kissenüberzugs ein. Das Kissen war mir überflüssig, ich hob es rasch und warf es an das Fußende des Bettes, die Uhr natürlich mit. In einem prächtigen Bogen schwang sie sich an die Wand und fiel mit zersplittertem Glase nieder. Ich zertrat sie feierlich wie diese Verbrecherin von Brille, der Kobold gab dabei einen Ton von sich, einen Pfiff, wie eine verfolgte Maus, ich kann schwören, dass es ein Laut war, der nicht im Umfange der physikalischen Natur liegt. Nun habe ich mir diese bescheidene Zeigerin der Zeit um geringes Geld gekauft; betrachten Sie die Gute: bemerken Sie den Ausdruck von Biederkeit in diesen schlichten Zügen; seit zwanzig Jahren dient sie mir, unberufen, unberufen! – treu und ehrlich. Die goldene Uhrkette habe ich verschenkt, der Haken wurde zu schmachvollem Tode verdammt. Ich trage meine redliche Zwiebel an dieser sanft gearteten seidenen Schnur. Johann, der muntere Seifensieder!
Jetzt das übrige! Die übrige Geschichte dieser schwarzen Morgenstunde. Stark eine halbe Stunde lang habe ich heute morgen diesen Schlüssel gesucht – es war zum Rasendwerden, da finde ich ihn endlich, sehen Sie, so.“ Er legte den Schlüssel auf das Tischchen am Bett, stellte den Leuchter darauf; der Schlüssel fand just, wie ausgemessen, Platz unter dem Leuchterfuß.
„Wer kann nur daran denken, wer auf die Vermutung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekt zu vermeiden! Und dazu lebe ich“ An solches hündisches Suchen muß ich meine arme, kostbare Zeit verschwenden! Suchen, suchen und wieder suchen! Man sollte nicht sagen: so und so lange hat A. oder B. gelebt, nein: gesucht...“

Friedrich Theodor Vischer