Kurzgeschichte über die Wahrheit


An einem Abend spät saß noch ein Wandersmann vor eines Bauern Haus auf einem Block. Da kam der Bauer vom Felde heim und redete ihn an: „Guter Gesell, was Sitzes du hier? Warum gehst du nicht in ein Haus, damit du nicht die ganze Nacht unter freiem Himmel weilen musst?“ Der Wandersmann erwiderte: „Lieber, guter Freund, ich bin durch‘s Dorf gegangen und es will mich niemand beherbergen. Ich habe nämlich eine Gewohnheit an mir, die mich bei allen Leuten unbeliebt macht.“
Da fragte der Bauer: „Guter Gesell, was ist denn das für eine Gewohnheit?“ Er antwortete: „Ich sage jedermann die Wahrheit.“ – „Ei,“ sprach der Bauersmann, „das ist ja eine gute Gewohnheit. Komm zu mir herein; du bist mir ein werter Gast und sollst es so gut haben wie ich.“
Der Wandersmann ging mit dem Bauern in das Haus und der Hauswirt rief seiner Frau zu: „Grete, back schnell Kuchen und Semmel, ich habe einen Gast mitgebracht.“ Als sie nun aßen, nahm der gute Gesell alles wahr, was ihm bei seinen Wirtsleuten auffiel. Und es war niemand im Hause als der Bauer, der hatte ein Blätzlein vor dem Auge hangen, und seine Hausfrau Grete hatte nur ein Auge, und der einen Katze, der troff ein Auge.
Als man im besten Essen war, da sprach der Bauer: „Lieber, guter Gesell, du sagst also allerwege die Wahrheit, so sage mir auch eine Wahrheit!“ Der Wandersmann sprach: „Ach, lieber Hauswirt, Ihr werdet zornig und böse über mich!“ Der Bauer sagte: „Nein, ich werde nicht böse.“ Da betrachtete der Gesell noch einmal die Hausgenossenschaft und sagte endlich: „Wenn ich recht sehe, so habt ihr alle drei, du, deine Frau und die Katze, zusammen nur drei Augen.“ Da der Bauer das hörte, was doch die Wahrheit war, erfasste er die Ofengabel und jagte den guten Gesellen zum Hause hinaus.
Also ist‘s doch wahr, was geschrieben steht: „Es ist keine Wahrheit noch Barmherzigkeit auf Erden.“