Die ehrlichen Leute

Kaiser Josef 2. kam einst in ein Gefängnis, entschlossen, demjenigen Sträfling die Freiheit zu schenken, der diese Wohltat am meisten verdiene. Er fragte darum einen nach dem andren, warum er sich als Sträfling im Gefängnisse befinde. Zu seiner großen Überraschung mußte er hören, dass fast alle ihre völlige Unschuld beteuerten. Sie behaupteten, ehrliche, rechtschaffene Leute zu sein, die nur von schlechten Menschen fälschlich angeklagt und ungerecht verurteilt worden seien. Jeder aber bat den Herrscher, er möchte sich doch seiner erbarmen und ihm die Freiheit schenken.
Zuletzt kam der Kaiser zu einem noch ziemlich jungen Menschen, den er ebenfalls fragte, was ihn ins Gefängnis gebracht habe. „Ach, Majestät,“ antwortete er, „ich bin vordem ein gar schlechter Mensch gewesen, habe meinen Eltern nicht gehorcht, sondern ein gottloses Leben geführt und viele böse Streiche verübt. Mit Recht muss ich jetzt diese harte Strafe erleiden.“
Kaiser Josef wusste wohl, dass alle Sträflinge ihre Strafe verdient hatten; doch von dem jungen Manne, der so reumütig seine Schuld eingestand, hoffte er, dass er sich noch bessern würde. Darum sprach er: „Wie kommt denn so ein abscheulicher Frevler hier unter diese ehrlichen und unschuldigen Leute? Nehmt ihm geschwind seine Ketten ab und jagt ihn fort, damit er diese guten Menschen nicht auch noch verführe!“ Sogleich setzte man den jungen Mann in Freiheit; die andren Sträflinge aber mussten im Kerker bleiben und hatten nun Zeit, über ihre Schuld oder Unschuld weiter nachzudenken.

Franz Wichtrei