Vorurteile und Übermut


Eines Tages saß der Heiner ganz betrübt in einem Wirtshaus und dachte daran, wie ihn zuerst der Rote Dieter und danach sein eigener Bruder verlassen haben und wie er jetzt allein ist. „Nein,“ dachte er, „es ist bald keinem Menschen mehr zu trauen und wenn man meint, es sei einer noch so ehrlich, so ist er ein Spitzbube.“ Unterdessen kommen mehrere Gäste in das Wirtshaus und trinken Neuen „und wisst Ihr auch,“ sagte einer, „dass der Zundelheiner im Land ist und wird morgen im ganzen Amt ein Treibjagen auf ihn angestellt, und der Amtmann und die Schreiber stehen auf dem Anstand?“
Als das der Heiner hörte, wurde es ihm grün und gelb vor Augen, denn er dachte, es kenne ihn einer und jetzt sei er verraten. Ein anderer aber sagte: „Es ist wieder einmal ein blinder Lärm. Sitzt nicht der Heiner und sein Bruder zu Wollenstein im Zuchthaus?“ Drüber kommt auf einem wohlgenährten Schimmel der Brassenheimer Müller mit roten Pausbacken und kleinen freundlichen Augen daher geritten. Und als er in die Stube kam und tut den Kameraden, die bei dem Neuen sitzen, Bescheid und hört, dass sie von dem Zundelheiner sprechen, sagt er: „Ich hab‘ schon so viel von dem Zundelheiner erzählen gehört. Ich möchte‘ ihn doch auch einmal sehen.“
Da sagte ein anderer: „Nehmt Euch in acht, dass Ihr ihn nicht zu früh zu sehen bekommt. Es geht die Rede, er sei wieder im Land.“ Aber der Müller mit seinen Pausbacken sagte: „Pah! Ich komm noch bei guter Tageszeit durch den Fridstädter Wald, dann bin ich auf der Landstraße. Und wenn‘s fehlen will, geb‘ ich dem Schimmel die Sporen.“ Als das der Heiner hörte, fragte er die Wirtin: „Was bin ich schuldig?“ ,und ging fort in den Fridstädter Wald. Unterwegs begegnet ihm auf der Bettelfuhr ein lahmer Mensch. „Gebt mir für ein Käsperlein Eure Krücke,“ sagte er zu dem Soldaten. „Ich habe das linke Bein übertreten, dass ich laut schreien möchte, wenn ich drauftreten muss. Im nächsten Dorf, wo Ihr abgeladen werdet, macht Euch der Wagner eine neue.“
Also gab ihm der Bettler die Krücke. Bald darauf gehen zwei betrunkene Soldaten an ihm vorbei und singen das Reiterlied. Als er in den Fridstädter Wald kommt, hängt er die Krücke an einen hohen Ast, setzt sich ungefähr sechs Schritt davon weg an die Straße und zieht das linke Bein zusammen, als wenn er lahm wäre. Drüber kommt auf stattlichem Schimmel der Müller daher trottiert und macht ein Gesicht, als wenn er sagten wollte: „Bin ich nicht der reiche Müller und bin ich nicht der schöne Müller und bin ich nicht der witzige Müller?“
Als aber der witzige Müller zu dem Heiner kam, sagte der Heiner mit kläglicher Stimme: „Wollt Ihr nicht ein Werk der Barmherzigkeit tun an einem armen lahmen Mann? Zwei betrunkene Soldaten, sie werden Euch wohl begegnet sein, haben mir all mein Almosengeld genommen und haben mir aus Bosheit, dass es so wenig war, die Krücke auf jenen Baum geschleudert und sie ist an den Ästen hängen blieben, dass ich nun nimmer weiter kann. Wollt Ihr nicht so gut sein und sie mit Eurer Peitsche herabzwicken?“
Der Müller sagte: „Ja, sie sind mir begegnet an der Waldspitze. Sie haben gesungen: „So herzig, wie mein Liesel, ist halt nichts auf der Welt!“ Weil aber der Müller auf einem schmalen Steg über einen Graben zu dem Baume musste, so stieg er von dem Ross ab, um die Krücke herabzuzwicken. Als er aber an den Baum ist und schaut hinauf, schwingt sich der Heiner schnell wie ein Adler auf den stattlichen Schimmel, gibt ihm mit dem Absatz die Sporen und reitet davon. „Lasst Euch das Gehen nicht verdrießen,“ rief er dem Müller zurück, „und wenn Ihr heimkommt, so richtet Eurer Frau einen Gruß aus von dem Zundelheiner!“
Als er aber eine Viertelstunde nach Betzeit nach Brassenheim und an die Mühle kam, und alle Räder klapperten, dass ihn niemand hörte, stieg er vor der Mühle ab, band dem Müller den Schimmel wieder an der Haustüre an und setzte seinen Weg zu Fuß fort.

J. P. Hebel