Der Hasenkönig

Es war einmal ein Hase, mit dem trieben die anderen immer ihren Spott, weil er kurzsichtig war. Er war aber klüger als alle. Einmal saß er mit seinen Kameraden in eines Bauern Garten und tat sich an jungen Kohl gütlich. Da sahen die anderen den Bauer mit einem großen Knüppel kommen und machte sich heimlich davon und ließen den Kurzsichtigen sitzen. „Das soll einen Spaß geben!“sagten sie. Ehe sich’s der verratene Hase versah, bekam er einen so gewaltigen Schlag, dass ihm fast die Sinne vergingen. Er macht einen Satz und lief, was er laufen konnte. Als er nach Hause den Wald kam, lachten die anderen und fragten, wie ihm die Prügel bekommen seien. „Prügel?“ sagte der, „den will ich sehen, der mich prügelt. Ich machte dem Bauer große Augen und blickte ihn grimmig an, dann nahm er Reißaus, denn er hielt mich für einen Löwen. Seht, so blitzte ich ihn an!“ Und er machte so große Augen, dass es den anderen ganz unheimlich wurde.

Am nächsten Tage saß der kurzsichtige wieder mit zweien seiner Kameraden bilden auf einem Krautfelde, als der Jäger kam. Da liefen die beiden davon; der Kurzsichtige aber dachte, sie wollen ihn nur wieder zum besten haben, machte aber endlich ein Männchen, um sich umzusehen. Hui! Wie pfiffen ihm die Schrote um den Kopf! Aber er hatte Glück, der Schuss war danebengegangen.
Als er nach Hause kam, verspottete er die anderen und sagte: „ Ihr seid rechte Feiglinge! Denkt wohl, ich hätte die Jäger nicht gesehen? Freilich sah ich ihn, aber ich machte gleich ein Männchen; da hielt er mich für einen Bären und warf die Flinte weg. Der Schuss fuhr in den Boden, der Jäger aber lief, was hast du, was kannst du, in den Wald.“ Nun wussten die anderen sich vor Staunen über so unerhörte Kühnheit nicht zu fassen, bekamen vor dem Helden einen noch größeren Respekt und baten ihn, er möge ihr Feldherr sein. „Ja, das will ich!“  sagte der Kurzsichtige. Von nun an mussten im alle gehorchen, und damit er sicher sei, stellte er immer Wachen aus, die ihm alles, was sie sahen, melden mussten.
Eines Tages aber klapperte es im Walde, als wären 1000 Mühlen darin. Da kamen die Hasen in Todesangst zu ihrem Feldherrn und riefen: „Ach, hilf uns, beschütze uns, sonst sind wir verloren!“ – „Ja, das seid ihr, wenn ich euch nicht beschütze. Aber ich tu‘s nicht, wenn ihr mich nicht zu eurem König macht!“ Das versprachen sie ihm und er sagte: „Gut, reißt nun aus, was ihr könnt! Horcht! Wie’s dahinten klappert! Lauft vorwärts, ich will euch den Rücken decken!“ Das ließen die dummen  Hasen sich nicht zweimal sagen. Der kurzsichtige aber verkroch sich in einen Dornenstrauch. Da ging’s auf einmal vorn: Piff, paff, puff! – Von hinten aber kamen die Treiber und klapperten. „Klappert ihr nur,“ dachte der Kurzsichtige, „Klappern sind keine Flinten!“ und blieb mäuschenstill in seinem Dornstrauche sitzen.
Am Abend, als es nun still war und der Mond schon hell am Himmel stand, schlich er sich nach dem Versammlungsplatze. Als er sah, dass die Kameraden versammelt waren und traurig die Köpfe hängen ließen, weil soviele ihrer Brüder umgekommen waren, warf er sich in die Brust, trat unter sie und sprach: „ Willkommen, Brüder! Das war ein heißer Tag, aber ein Ehrentag. Wir haben den Sieg gewonnen und das Feld behauptet! Ach, hätte ich nur alle retten können, aber es waren der Feinde zu viele. Und nun trauert nicht länger über die Gefallenen, sondern freut euch, dass ihr noch lebt! Hätte ich euch nicht den Rücken gedeckt und mein Leben für euch gewagt, so wäret Ihr alle umgekommen!“ Das leuchtete den Hasen ein und sie dankten dem großen Helden und machten den Kurzsichtigen zu ihrem König.
Da geschah es eines Abends, dass ein Hase dem Könige meldete, er habe einen Garten ausgekundschaftet, in dem eine große Menge junger Salat stehe. In den Garten könne man leicht kommen, denn in dem Weißdornzaune befinde sich ein Loch, das groß genug sei, um durchschlüpfen zu können; er aber auch bereits im Salat sich trefflich schmecken lassen. „Das trifft sich gut,“ sagte der kurzsichtige König, „junger Salat ist mein Leibgericht. Folgt mir, ich will euch führen; unter meinem Schutze seid Ihr sicher, dass es ihr!“ Da folgten die Hasen voller Freude ihrem Könige. Als sie an den Zaun kamen und das Loch gefunden hatten, sagte der Kurzsichtige: „Da ich König bin, so gebührt es mir, dass ich den Garten zuerst betrete und mir die schönsten Salatpflanzen aussuche.“ Das leuchtete den anderen ein und sie ließen ihrem Könige den Vortritt. Kaum hatte aber dieser den Kopf durch das Loch gesteckt, so fing er jämmerlich zu schreien und zu zappeln an. Er hatte die Schlinge nicht gesehen, die in dem Loche lag, und sich gefangen, und je mehr er zappelte, umso mehr zog sich die Schlinge an seinem Halse zusammen. So kam er jämmerlich um sein Leben. Die übrigen Hasen aber war der Appetit nach jungem Salat vergangenen und sie liefen eilig davon.

Julius Sturm