Der gescheite Schimmel
In den Straßen, besonders an Plätzen, wo gebaut wird, kann man gar jammervolle Pferde sehen, alte abgetriebene, lahme, blinde, halb verhungerte Tiere. Der Anblick tut einem im Herzen weh, und so eilt man denn gern schnell vorüber. Aber neulich musste ich doch stehen bleiben bei einem Neubau; denn da wurde meine Aufmerksamkeit durch ein ganz merkwürdig schlaues Rösslein gefesselt. Die Fuhrleute waren in der Kneipe, und die Pferde konnten sich die Zeit auf ihre Weise vertreiben. Weite Sprünge konnten sie allerdings nicht machen; denn die Wagen waren gebremst. Ein Brauner und ein Fuchs ließen denn auch nur müde die Köpfe hängen und ein Bein ums andere ausruhen. Aber der Letzte in der Reihe, ein Schimmel, wusste besseres zu tun. Man sah es ihm schon an den Augen an, dass er ein ganz gewitzter Bursche war. An dem Wagen seines Vordermannes, hinten am Langbaum, hing der Futterkübel. Den hatte das Rösslein aufs Korn genommen, und da es seinen Wagen nicht vorwärts bewegen konnte, so streckte es den Hals so lang wie möglich; aber den Futterkübel konnte es doch nicht erreichen. Nun versuchte es der Schimmel auf eine andere Art. Er hob den Fuß und wollte damit den Kübel an sich ziehen. Allein auch das misslang. Der Fuß stieß nur an den Kübel; aber fassen konnte er ihn nicht. Doch durch den Stoß kam das Gefäß in schwingende Bewegung; es flog ein Stück weiter weg, aber um dasselbe Stück näher zum Schimmel zurück. Diese Beobachtung machte sich der kluge Gaul zunutze. Sogleich versetzte er mit einem kräftigen Hufschlag den Kübel in starke Pendelbewegung und steckte, als dieser zurückflog, schnell den Kopf hinein. Dann fraß er daraus, solange er den Kübel halten konnte. Der Kübel strebte in seine alte Lage zurück; aber ehe er ihm vollends entglitt, nahm der Schimmel noch ein tüchtiges Maul voll Hafer auf, kaute ihn ganz gemächlich und gab darauf dem Gefäß von neuem einen Stoß. Bald war der Wagen von etlichen zwanzig Menschen umringt, die alle lachend und bewundernd dem gescheiten Schimmel Beifall zollten. Das dauerte wohl eine Viertelstunde. Dann kamen die Fuhrknechte aus der Kneipe und machten der Schmauserei ein Ende. „Nein, so was von einem Tiere! Und das soll nicht denken und überlegen können!“ sagte gar mancher der Zuschauer.