Der gerechte Kadi

Ein weiser Kadi zu Bagdad,
der hatte der Schreiber zwei,
als Stützen des schweren Amtes
in seiner Gerichtskanzelei.

Bescheiden und still war Achmet,
doch fleißig dabei und gewandt,
ein Ohrenbläser war Hassan
und schleichender Denunziant.

Da, eines Tages sprach Hassan
bei seinem Gebieter vor.
„O Herr“, begann er voll Demut,
„leih‘ mir dein erlauchtes Ohr!“

„Es schmerzt mich sehr, dir’s zu sagen,“
fuhr fort der elende Wicht,
„doch Achmet, den du so schätzest,
verdient deine Gnade nicht!“

„Wohl kriegt er fünfzehn Zechinen
an Gage allmonatlich,
allein, beim Bart des Propheten!
oft schreibt er dir keinen Strich!“

Ihn hörte schweigend der Kadi,
dann sprach er: „Gedulde dich!“
Und eilends durch einen Sklaven
berief er Achmet zu sich.

„Ich habe gehört , daß Hassan
im Dienste oft müßig sei!“
So sprach er finster zu Jenem,
„drum sprich und gesteh‘ mir’s frei!

„Du warst ja mit ihm im Amte,
du mußtest daher es seh’n,
und sagst du mir nicht die Wahrheit,
dann soll es dir schlimm ergeh’n!“

„Gebieter“, erwiderte Achmet
„Du fragst mich zu viel, fürwahr!
Ich merkte nicht drauf, doch ich glaube,
daß Hassan stets fleißig war.“

Da wandte der Kadi zornglühend
sein Auge dem Anderen zu.
Und rief mit donnernder Stimm:
„Der faule Schurke warst - du!

„Denn hättest du selber emsig
den Dienst im Amte verseh’n,
so wär dir nicht Zeit geblieben,
du Schuft, auf And’re zu sehn!“

Drauf wurde der feige Hassan
entlassen mit Spott und Hohn,
doch Achmet erhielt zweihundert
Zechinen Remuneration.

D. E. Wantalowicz