Das Rind sonst und jetzt

Es hat schon früher Rinder in unserer Heimat gegeben, lange vorher, eh Menschen im Lande wohnten und zahme Kühe und Ochsen hielten. Es hat nun mancher gemeint, dass die wilden Rinder in ihrer Freiheit ehedem doch ein herrliches Leben geführt haben müssten, und das sie es als Haustiere jetzt jämmerlich schlecht hätten. Vormals sei bei ihnen alle Tage schmaus gewesen; gegenwärtig hätten sie Not und Plage ihr Lebtag; dazu drohe ihnen das Beil des Fleischers, ja, schon den Kälbern säße das Messer an der Kehle. Das auf Erden kein Leben ohne Not und Qual ist, trifft zu, selbst bei dem Rindvieh. Aber ich meine doch, dass das Vieh früher viel schlimmer dran war als jetzt, und will dir auch sagen, wie ich dazu komme. Das wilde Vieh konnte den ganzen Tag hindurch im Sumpfe und auf der fetten Wiese herumwaten und sich aussuchen, was ihm gefiel, das ist wahr; aber es musste auch stets sehr auf der Hut sein. Graste es so schlich ihm der starke Bär nach, um es zu packen und zu zerreißen. Lag es im Grase und wollte die Mahlzeit wiederkäuen, wie das so bei Rindern brauch ist, so kamen die Wölfe herbei und hatten verlangen nach Rinderbraten. Es gab also damals der Schlächtermeister gerade genug. Kam nun der Winter, dann stieg die liebe Not noch viel höher. Der Sumpf war gefroren, die Gräser waren verwelkt und die kleinen Krautspitzen mit Schnee und Eiskrusten bedeckt. Nichts gab es zu fressen als die Knospen der Büsche und trockene Reiser. Das ist eine schlimme Kost für einen hungrigen Rindsmagen, und wie viel gehörte dazu, den Magen nur notdürftig zu füllen! Da verschwand die Fettwamme am Halse, und durch das struppige Fell schauten alle Rippen hindurch. Manch starker Bulle legte sich todmüde auf den Schnee; die Beine wollten ihn nicht mehr tragen. Er ward eine Speise der Raben. Andere fielen durch Krankheiten und durch Raubtiere, die im Winter noch hungriger und wütender waren als im Sommer. Wie geht es dagegen dem Rinde heutzutage? Ist ein Kälbchen geboren, so herrscht Freude im ganzen Hause. Wie wird’s von dem Bauer gepflegt und gefüttert, wie von den Kindern gehätschelt! Zwar werden ihrer viele geschlachtet; aber es bleiben doch viel mehr am Leben als ehemals. Besuchst du ein Dorf oder Landstädtchen, so ist das erste, was du am Morgen hörst, das Horn des Kuhhirten. Du bist vielleicht noch nicht aus dem Bette, da wandeln die schweren, buntfleckigen Kühe schon mit den großen Glocken an dem Hause vorbei nach der Weide. Sie rufen brüllend die Gefährten, die noch zurück sind. Der Landwirt hat ihnen die schönsten Gräser auf dem Plane angesät; so speisen sie den ganzen Tag lauter saftiges Gras und süß duftende Kräuter, und das ist für eine Kuh ebenso wie für ein Kind Braten, Kuchen und Zuckerbrot. Dann können sie sich ohne Sorge niederlegen und der Verdauung pflegen, solange sie wollen. Der Hirt wacht für sie, sorgt für frisches, gesundes Getränk, ja, der Bauer lässt ’s sich viel Geld kosten und gibt ihnen wohl Kleie und Ölkuchen noch in die Krippen. Alle Ungewitter mit Donner, Blitz und Hagelschlag musste das Rind ehedem im Freien aushalten; jetzt ist es zur Nachtzeit oder beim Unwetter im sichern Stalle und merkt kaum etwas davon, was draußen vorgeht. Deckt draußen der Schnee das ganze Gefilde, und heult der grimmige Sturm um den Giebel, so hat das Rind im warmen Stalle die Krippe voll prächtigen Heus. Da ist weder von Hunger noch von Todesangst und Nöten die Rede. Natürlich muss das Rind  aber auch mitunter ein wenig mithelfen. Die Kuh muss den Pflug und die Egge ziehen und der Ochse den Wagen. Es ist für den starken Burschen aber immer besser, er schafft mit seinen Hörnern und seinem kräftigen Kopfe etwas Nützliches, was ihm selbst auch wieder zugute kommt, als das er seine Kraft nur dazu verwende, sich mit anderen herumzustoßen. „Aber“, sprichst du vielleicht, „am Ende schlachtet der Fleischer doch alle miteinander, Ochsen, Kühe und Kälber, und sie wandern sämtlich zur Küche in Töpfe und Kessel und das Fell zum Gerber und Schuster.“ Du hast recht! Glaubst du aber, dass von dem wilden Vieh vielleicht ein einziges Stück einmal an Altersschwäche gestorben sei? Dann wirst du wohl irren. Die meisten vielen schon in frühester Jugend durch Ungunst des Wetters und durch Hunger im Winter. Ein gewaltsamer Tod ist daher von jeher das Schicksal des Rindes gewesen. Der Unterschied besteht nur im Leben, und dies war ehedem täglich mit Not und Todesfurcht versetzt. Wie viel tausend Kinder in Stadt und Dorf jubeln vor Freuden, wenn früh die Frische Milch zum Frühstück vorbeikommt! Butter und Käse gehören allerwärts mit zum lieben Brote und zur täglichen Nahrung. Der Talg gibt Kerzen und Seife, das Horn die Kämme und tausend Kleinigkeiten im gewöhnlichen Leben. Auf Rindsleder wandern die meisten Menschen durchs Leben, wenn sie nicht barfuss gehen oder Holzschuhe tragen, und viele stecken sogar die Hände in Kalbfell. Das Kalbfell ruft auf der Trommel die Krieger zum Kampfe fürs Vaterland. So bereiten die Rinder aus grünem Gras und saftigem Kraut zahllose Dinge, die des Menschen Kunst ohne sie nimmer zustande brächte. Es diente der Mensch dem wilden Rinde, als er sich seiner annahm, um es zu pflegen. Es dient wieder rum das gezähmte Rind dem Menschen und macht ihm das Leben behaglicher.
 
Hermann Wagner