Was das Lüftchen in der Stadt gutes schafft.
 
Wind und Lüftchen kamen nach einer großen Stadt. Wie schön sah alles dort aus.! Der Wind sagte zum Lüftchen: „Hier wirst du Arbeit genug finden; in einer so großen Stadt kann man dich besser gebrauchen als mich.“ Und in dem selben Augenblicke war der Wind auf und davon, ehe das Lüftchen noch Zeit gehabt hätte zu fragen, welche Arbeit es denn eigentlich in der großen Stadt verrichten sollte. Die Häuser waren groß und prächtig. Einige waren aus Stein, andere aus Marmor, wieder andere aus Ziegelsteinen gebaut. Fast alle waren von herrlichen Gärten umgeben. Das Lüftchen bemerkte einige Kinder beim Spiel; ehe es seinen Weg aber fortsetzte, wollte es sich mit ihnen amüsieren. Es erfasste ihre Drachen, machte ihre Fahnen flattern und wehte ihre Hüte fort, so dass sie eine wilde Jagd hinter ihnen her machen mussten. Dann half es der Sonne die nasse Wäsche trocknen, die auf dem Hofe hing. Endlich erreichte es einen andern Stadtteil, wo die Luft heiß und schwül war. Dort sah es viele Menschen in Fabriken und Werkstätten arbeiten. Es merkte, wie warm und unbehaglich den Leuten zumute war. Da flog das Lüftchen durch Tür und Fenster, brachte den müden Arbeitern erfrischende Kühlung, so dass sie ihre Müdigkeit vergaßen und nur daran dachten, wie schön es sei, für die lieben Kinder zu Hause zu arbeiten.
Und wieder machte sich das Lüftchen auf den Weg. Bald langte es in einem andern Stadtteile an, wo die hohen Häuser dicht aneinander standen. Dort waren keine Gärten, keine grünen Rasenplätze. An den Fenstern hingen keine hübschen Vorhänge, mit denen das Lüftchen hätte spielen können, und die Kinderchen sahen lange nicht so vergnügt aus wie die, die es im Park sich hatte tummeln sehen. Sie saßen auf den Treppen und auf den Fußwegen ohne Drachen, ohne Fahnen und ohne hübsche Spielsachen, und die kleinen Mädchen hatten nicht einmal Hüte auf.
„Ich will eben in ein Fenster hineinlugen und sehen, was für Wohnungen diese Kinder haben,“ dachte das Lüftchen. Darauf wehte es leise durch ein offenes Fenster, und was meint ihr, was das Lüftchen sah? Auf dem Bette lag ein liebes kleines Mädchen mit hochroten Wangen. Es warf sich unruhig von einer Seite zur andern, indem es jämmerlich stöhnte. „O Mutter! o Mutter! wie ist mir so heiß!” Aber die Mutter war zu beschäftigt, um bei ihrem Kinde sitzend und es beruhigen zu können. Sie musste jeden Tag waschen, um Geld zu verdienen, sonst hätten sie nichts zu essen gehabt. Da kam das Lüftchen heran, fächelte leise das heiße Gesichtchen des Kindes, strich sanft das feuchte Haar aus seiner Stirn, bis das arme Kind endlich einschlief. „Jetzt träumt es gewiss von den Englein,“ sagte sich das Lüftchen, als es das Kind so glücklich im Schlafe lächeln sah. Und indem es dieses dachte, gab es dem Kinde noch einen leisen Abschiedskuss.
So endete der Tag. Aber das Lüftchen blieb noch immer bei der Arbeit; unermüdlich schafft es Liebes und Gutes, wohin es kommt.
 
A. Friedrich